„Steuermann“ Gailana lebt jetzt hinterm Deich
Marianne Lange
Zur See fahren wollte Gailana Lody schon immer – aber 200 Kilometer liegen zwischen ihrer Geburtsstadt Gelsenkirchen und der Nordsee. Nach der Evakuierung zum Schutz vor Bombenhagel zieht sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zu den Großeltern nach Recklinghausen. 17 Parteien bevölkern in der Nachkriegszeit das Haus.
Gailana geborene Luda geht zur Schule und liest viele Bücher über das Meer. Ihr Traum: Matrose sein! Kein leichtes Ziel für ein Mädchen, schon gar nicht in den 50er Jahren. Und noch heute hört man unter Seeleuten: Blumen und Frauen haben an Bord nichts verloren.
Aber die Abiturientin läßt sich nicht abschrecken. Sie will die weißen Flecken auf der Landkarte erforschen und das Unbekannte vom Wasser aus entdecken. Sie schafft es und erfüllt sich ihren Berufswunsch.
Von 1959 bis 1965 fährt Gailana zur See. Zuerst heuert sie als Schiffsjunge auf einem “Kümo” an, einem Küstenmotorschiff, und erfährt: Westfalen sind unter Seeleuten gar nicht so selten, Frauen schon eher! Dann, nach zahlreichen Absagen, wird Gailana endlich aufgenommen in die “Mosesfabrik” – die Berufsschule für Matrosen-Azubis: “Zur Arbeit zog man halt Hosen an”, erinnert sie sich,“ und das war auch für mich nicht ganz neu. Ich bin schon mit Jeans, die damals noch Texashosen hießen, in Recklinghausen rumgerannt und durfte sie auch in der Schule tragen!”
Als erstes Mädchen geht sie “auf den Priwall”, nachdem Seemann ein staatlich geregelter Ausbildungsberuf geworden war. Die “Priwallianer”, die Teilnehmer und Lehrer der Matrosenlehrgänge in der “Mosesfabrik” auf der Halbinsel Priwall gegenüber Travemünde, fühlen sich als Elite der Seeleute.
Zum Unterrichtsstoff gehört natürlich Geographie – alle Hafenstädte müssen auswendig gelernt werden – und Flaggenkunde, außerdem Funk- und Lichtmorsen, Seemannsknoten und handwerkliche Tätigkeiten. Auch “Backen und Banken” steht auf dem Lehrplan – das ist die Arbeit in der Kombüse, in der für die ganze Besatzung gekocht werden muß.
Gailana besteht mit Auszeichnung und heuert bei einer Reederei an. Beim Tod Kennedys befindet sie sich mit dem Küstenmotorschiff “Assel” wieder
einmal auf dem Rückweg von England, mit einer Ladung Kohle. Hin hatten sie Getreide gebracht: “Was wir immer gewaschen haben, um die Laderäume sauber zu kriegen!”
Um ihre umfassende Ausbildung wird die Pionierin heute von jüngeren Kollegen beneidet. “Wir waren autark”, alle Arten von Reparaturen, improvisieren eben aus Nichts was machen, vom Blinddarmrausnehmen über sämtliche Flaggen, Morsezeichen bis zum Kochen haben wir alles gelernt!”.
Ein Szenenwecksel in ihren Garten erbringt den Beweis: Die Zäune halten durch Seemannsknoten und Bändsel zusammen. Palsteks und Slipsteks sind bei Wind elastischer als Schrauben, und es geht schneller, davon ist die ehemalige Seefahrerin fest überzeugt.
Am Fuß ihrer gebändselten Zäune wächst ein Erdbeerdickicht, durch das sich eine Schneise zieht: der Trampelpfad der Igel. Auch der Waldmeister hat gelitten. Die Schneise windet sich in Schlangenlinien durchs üppige Gestrüpp wie die Straßen in der Marsch. Warum gibt es auf dem platten Land, gleich hinter den Strandkörben an der baumlosen Küste Dithmarschens, so viele Kurven? “Sonst wäre es wohl zu langweilig”, meint Gailana Lody.
Dithmarschen ist eine Insel, betonen die Eingeborenen, weil es von Elbe, Nordsee, Nord-Ostsee-Kanal und Eider eingegrenzt wird. Seit 25 Jahren lebt sie hier, und sie mag diese Gegend im Südwesten Schleswig-Holsteins.
Nur wenn es ihr schlecht geht, hört man, daß sie aus Westfalen kommt. Sie liebt das Meer, sie liebt den Sturm und den Winter, und sie hat sich hinter Haselsträuchern und Pappeln vergraben in einem Haus in Reinsbüttel, das sie mit ihrem Mann 1980 mitten in eine Weide gesetzt hat.
Wie in der Marsch üblich, liegt das Haus auf einer Wurt, das ist ein Kieshaufen, der von einem Entwässerungsgraben umgeben ist.
Vögel haben den Holunder ausgesät. Der Garten wuchs in die Höhe.
Johannisbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren geben den Blick frei auf eine Laube. Holzmulch zwischen den Gemüsebeeten federt die Schritte ab, und man fühlt sich wie auf den schwingenden Planken eines Schiffes. Rhabarber, Tomaten, Schnittlauch, überall Mohn. Auch die vierte Aussaat des winzigen Pflücksalats ist den Schnecken zum Opfer gefallen. Dunkelblau steht heute
der Rittersporn, von dem sie drei Jahre lang nicht wußte, welche Farbe er würde, so kümmerlich hielt ihn zunächst der Wind am Boden.
Gelbe, rote und weiße Rosen blühen rings um das Haus. Blaßrosa erhebt sich die “Bruder Cadfael”-Rose über dem Lieblingsplatz, eine englische Züchtung, die dem Mönch, Gärtner und ehemaligen Seemann Cadfael gewidmet ist, einem mittelalterlichen Krimihelden, dessen Biographie eine Parallele zum Lebensweg der früheren Matrosin bietet.
Gailana Lody gerät ins Schwärmen. Aber das ist nicht die einzige Romanreihe, die sie verschlingt. Sie liest deutsche und englische Bücher, sogar aus Rußland hat sie sich zu Seefahrtszeiten Druckwerke als Souvenirs mitgebracht. Und bemalte Blechdosen.
Fast alle Wände in ihrem Haus sind mit Bücherregalen bedeckt. Krimis, Abenteuerromane, Jugendbücher, Nachschlagewerke, Tarot und Esoterik, Kunstbände, Frauenliteratur, Politik und viele Dutzend Gartenbücher brauchen Platz. “Ich habe mehr Bücher als die nächste Buchhandlung”, sagt sie stolz.
Noch viele Jahre nach dem Beginn ihres Landlebens plaziert sie die Bücher ganz nach hintem im Regal, aus Gewohnheit, damit sie bei Seegang nicht nach vorne kippen konnten. Jetzt stehen sie auf Kante.
Bis zum Steuermann setzt Gailana Lody ihre Ausbildung fort. Befähigungsnachweis: das Steuermannspatent A 5. Sie will auf die Kommandobrücke: “Ich war dann berechtigt, Schiffe jeder Größe auf allen Meeren der Welt als Steuermann zu führen und in der küstennahen mittleren Fahrt auch als Kapitän.” Aber Kapitän über ein eigenes Schiff wird sie nicht mehr. Statt dessen heiratet sie einen Kapitän, den sie auf der Seefahrtsschule kennengelernt hat, fährt noch eine Weile zusammen mit ihm und steigt dann aus.
Sie zieht ihre drei Kinder groß und engagiert sich in der Kommunalpolitik für die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen.
Gailana Lody ist heute ihr eigener Kapitän: Ihr Haus in Reinsbüttel, in der Nähe des Nordseeheilbads Büsum gleich hinterm Deich, hat sie zu einer Frauenpension ausgebaut. Bis zur Strandpromenade ist es von hier nicht weit.
Es ist Flut. Graue Nordsee schwappt bis zur obersten Stufe der Treppe, die hinab ins Watt führt. Stürmischer Wind drückt das Wasser hoch. Gailana Lody ergreift das Geländer und posiert: eine Hand zum Festhalten für sich, eine Hand zum Arbeiten für das Schiff.
Jetzt können wir uns die 60jährige leicht als junge Matrosin vorstellen, die in der Nock vor dem Steuerhaus auf Wache ist und Ausguck geht! Sie lacht. Manchmal trägt der Wind einen Gruß vom Meer in ihren Garten. Dann liegt Salz auf den Fensterscheiben.
Gailana Lody mit ihrem Sohn im Jahre 1968: Der grosse und der kleine „Steuermann“ gehen von Bord